Desinformation und Fake News – das ist eine breit angekommene Floskel, die fixer Bestandteil praktisch jeder medienpolitischen Äußerung ist und die PolitikerInnen so geschmeidig über die Lippen kommt, dass sich die Frage nach ihrer Bedeutung kaum noch stellt. Geschweige denn nach ihrer Angemessenheit.
Genau diese Frage stellt jetzt ein Beitrag im Foreign Affairs-Magazine.
Ist – vor allem russische – Desinformation tatsächlich so weit verbreitet und so relevant wie aktuell gern ins Treffen geführt wird? Die Autoren führen einige Belege an, in denen Aussagen europäischer PolitikerInnen über vermeintliche Fake News in Fake News-Kampagnen aufgegriffen wurden und so diesen erst Material für verkürzte und verformte, aber nicht gänzlich falsche Halbwahrheiten lieferten.
Auch in anderer Hinsicht bewirkt intensive Desinformationsinformation Streisand-Effekte: Die häufige Erwähnung konstruiert eine Propaganda-Macht, die es so möglicherweise gar nicht gibt.
Kritik an der vermeintlichen Macht von Algorithmen und Propagandisten wird häufiger. In seiner Analyse der Breitbart-, BuzzFeed- und HuffPo-Ära stellt etwa Ben Smith, ehemaliger BuzzFeed- und NYT-Newsredakteur, auch die Effizienz der berüchtigten Cambridge Analytica-Kampagnen infrage.
Also alles in Butter? Oder umso mehr Grund, lautstark zu warnen, weil der Frosch erst langsam in der schmelzenden Butter gewärmt und dann doch frittiert wird? Die Metapher vom langsam gekochten Frosch bemüht die Zeit in einer Story zur dezenten russischen Unterwanderung eines Seminarprogramms in der diplomatischen Akademie in Wien. In vielen Ländern Afrikas sind russische und chinesische Einflüsse auf Medien ganz offensichtlich.
Dennoch warnen die Foreign Affairs-Autoren vor der Betonung russischen oder chinesischen Einflusses: Dieser sei oft ohne Beleg und trage überdies dazu bei, heimische Medien und Politik als schwach und korrupt erscheinen zu lassen. Desinformations-Themenkarrieren sollten genauer nachgezeichnet werden. Umso mehr ist es sehr schade, dass Crowdtangle eingestellt wird. Mit dem Tool ließ sich sehr einfach nachverfolgen, in welchen Social Media-Umfeldern welche Themen zuerst auftauchten und wie schnell sie sich verbreiteten. Meta hat Crowdtangle vor einigen Jahren gekauft und stellt das Produkt jetzt ein. Nachfolger sind nur vage angekündigt.
“Man möge beschließen, etwas tun zu wollen”
In Europa wird die Desinformationsabwehr nach wie vor hochgehalten. Die EU-Kommission verwarnt Twitter wegen Einsparungen in der Fake-Bekämpfung, Youtube dagegen kündigt verstärkte Desinformationsmaßnahmen an und der Rat der Europäischen Union nimmt die „Schlussfolgerungen zum Schutz von Wahlprozessen vor ausländischer Einflussnahme“ an. Was heisst das?
Der Rat sieht recht konkrete Bedrohungsszenarien: „Neben der Manipulation von Informationen durch ausländische Akteure, die stark zunimmt, können zu hybriden Kampagnen auch böswillige Cyberaktivitäten und andere Elemente gehören wie die Nutzung künstlicher Intelligenz und der Einsatz von Deep Fakes.“
Denen stehen etwas vage und bürokratische Reaktionen gegenüber: „Die Kommission wird aufgefordert, ihre Zusammenarbeit mit Online-Plattformen, ihre enge Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und Faktenprüfern sowie den Informationsaustausch mit den EU-Mitgliedstaaten fortzusetzen, um ausländische Einflussnahme und Desinformationen im digitalen Bereich zu bekämpfen.“
Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht weitere Verfahren gegen, Prüfungen von oder Warnungen an diverse Plattformen die Runde machen. Hier entsteht eine neue Form der staatlichen Kontrolle von Medien und Kommunikation. Populistische Parteien wie die FPÖ bezeichnen Digital Services Act und Digital Markets Act schon als neue Zensurgesetze, die – ohne Rücksicht auf ihr eigentliches Anliegen – abzulehnen seien.
Gerade bei Jüngeren ist die Allgegenwart von Kontrolle viel internalisierter als bei Menschen, die ein Leben ohne Social Media kennen. Ich bin gespannt, wie lange Kontrolle und staatliche Eingriffe noch als solche empfunden werden. Und ich bin neugierig, wie wir dieses Konstrukt von Medien, Markt, Staat und internationalen Organisationen in ein paar Jahren empfinden werden.
AI Act: Kontrolle von KI – oder für Behörden?
Ähnlich offen sehe ich den – jetzt endlich und tatsächlich verabschiedeten – EU AI Act. Es ist eine weitreichende und sicher noch häufig zu überarbeitende Regelung des wichtigsten Technologiekomplexes der letzten Zeit, die mit dem risikobasierten Ansatz zumindest ein wenig Kontrolle in das Themengebiet bringt. Zugleich öffnet der AI Act mit den zahlreichen Ausnahmen für Militär und Sicherheitsbehörden aber auch neuen Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen Tür und Tor und entwickelt Vorbildwirkung für andere Überwachungspläne, die ebenfalls bereits technisch und politisch sehr kritisch zu sehende Behördenprivilegien vorsehen. Diese geöffneten Tore müssen auch anderen Wegen wieder geschlossen werden