Datenpolitik #21: Zurück ins Prä-Googleozän

Wird Google entflochten? Digital-Debatten zum DSA im EU-Parlament sind unterirdisch. Der Draghi-Report kritistiert den EU AI Act.

Dass PolitikerInnen, die über Digitalgesetze debattieren, nicht besonders viel von Technik und Technik und digitalen Abläufen verstehen – geschenkt. Dass sie aber so argumentieren, als wären ihnen die Grundlagen ihrer eigenen Institutionen und die Regelwerke, die sie selbst diskutiert und beschlossen haben, völlig fremd, ist für einen demokratiefreundlichen Beobachter bitter. Ich habe die Diskussion zum DSA in der ersten Saison-Sitzung des IMCO-Ausschusses in EU-Parlament nachgesehen, und es war politisches Business als usual und damit zugleich eine betroffen machende Demonstration politischen Infights, der der Sache exakt überhaupt nicht dient.

Es sind unter anderem auch diese Politiker, die über die Entflechtung von Google und die digitale Wettbewerbsfähigkeit Europas entscheiden werden.

Dall-E, zeigt mit das Prä-Googleozän.

Die EU-Feinde im EU-Parlament

Auf Einladung von Kommissar Breton präsentierte Roberto Viola, Generaldirektor für Kommunikationsnetze, Inhalte und Technologien den Stand nach über einem Jahr Digital Services Act. Hauptziel des DSA sei es, Plattformen an der Weitergabe illegale Inhalte und schädlicher Informationen zu hindern und sie zur Dokumentation ihres Vorgehens anzuhalten

Insgesamt sechs Untersuchungen der EU Kommission gegen TikTok und Meta hätten ergeben, dass diese darauf abzielten, User abhängig zu machen. Viola sprach buchstäblich von Rabbitholes. Er feierte den Rückzug des TikTok Lite-Belohnungssystems aus Europa, mahnte, dass Twitter besonders nachlässig bei der Entfernung schädlicher Inhalte sei und steckte die Rolle der EU als Gesetzgeberin ab. Die EU stecke den Rahmen für Transparenzpflichten ab (die Transparenzdatenbank haben wir vergangene Woche besprochen), der DSA greife aber nicht inhaltlich ein. Letzteres sei Sache der Zivilgesellschaft und der nationalen Gesetze – wie sich in der Diskussion zeigen sollte, war das schon ein Vorgriff gegen ritualisierte Angriffe der rechten Meinungsfreiheits-Verteidiger von Patriots for Europe. 

Und Viola erwähnte auch, die Kommission habe sich für den Weiterbestand von Crowd Tangle eingesetzt. Er konnte aber keine nennenswerten Reaktionen von Meta berichten. Dennoch: Was für eine Karriere für ein kleines Recherchetool, das es vom kostenlosen Browserplugin für Insider zum international relevanten und umkämpften Fanal des offenen und transparenten Internet geschafft hat. 

Die folgende Diskussion schließlich war keine. Kommissionsfreundliche Abgeordnete forderten mehr und schnellere Eingriffe, schnellere Fortschritte bei der digitalen Altersverifikation und eine Prüfung von Messengern als Desinformationskanäle. Der Vertreter von Patriots for Europe bezeichnete den DSA als Zensurgesetz und Einschränkung der Meinungsfreiheit. Das ist ein interessanter Vorwurf gegenüber einem Mechanismus, der öffentlich dokumentiert und damit den Umgang mit Meinung und Meinungsfreiheit sichtbar macht. Er warnte auch vor Zuständen wie in Brasilien, wo die Twitter-Nutzung eingeschränkt wurde. 

Eine liberale Renew-Vertreterin wollte ihren Pelz gewaschen haben, dabei aber nicht nass werden – digitale Kontrolle, Transparenz, und Freiheit sind problematische Themen für Liberale, in denen sie noch keine würdige Position gefunden haben. Nichtssagende Phrasen wie „für Freiheit, aber gegen Hate und Gewalt“, „für Grundrechte, aber gegen Terrorismus“ können bestenfalls als Zeitvertreib betrachtet werden, um Zeit zur Formulierung einer vernünftigen Position zu gewinnen. Vor technischen und wirtschaftlichen Konzepten schrecken Liberale offenbar zurück – das könnte den Freiheitsbegriff einer oft lautstarken Papiertiger-Freiheitsanhängerschaft gefährden. Jedenfalls solle die Kommission schneller arbeiten. Danke für die Mitarbeit. 

Grüne wollen Suchtmuster stoppen und Daten für Forschung und NGOs zur Verfügung stellen. Linke mahnten Grundrechte ein, sahen dauerhafte Einschränkungen von Meinungsfreiheit als Totalitarismus und forderten, eher auf Aufklärung als auf Einschränkung zu setzen. 

Ein polnischer Abgeordneter forderte mehr Konsequenz bei der Durchsetzung von EU-Regeln in China oder in den USA – schön zu sehen, dass solche Absurditäten nicht nur von der nationalen Politik kommen, sondern auch im EU-Parlament selbst stattfinden. Und ein letzter Patriots for Europe-Abgeordneter aus Frankreich schließlich fragte nach der Finanzierung von Algorithmen. Es blieb unklar, was er damit meinte. Deshalb schwenkte er dann gleich auch den Ruf nach dem Strafrecht um, das endlich gegen Tech-CEOS eingesetzt werden solle, damit Kinder nicht mehr länger missbraucht würden

Eine erfrischend unsachliche Debatte. Wer geglaubt hätte, EU-Abgeordnete wären in irgendeiner Weise politisch redlicher, konnte auch hier sehen, wie bemüht Politik an ihrer eigenen Delegitimierung arbeitet. Leute, wer soll euch denn noch ernst nehmen?  

Viola hatte fünf Minuten Zeit für Antworten, versprach schnellere Umsetzung und eine Anwendung des DSA auf die chinesischen Shopping-Shootingstars Temu und Shein ab Oktober. 

Und er ließ sich darauf ein, festzuhalten, dass der Schutz von Kindern online oberste Priorität habe. Das ist natürlich nicht falsch, aber es ist eine unnötige und irreführende Schwerpunktverschiebung. Social Media, Messenger und andere digitale Plattformen sind keine Instrumente des Kindesmissbrrauchs. Digitale Plattformen sind zentrale Faktoren unsere Zeit, die großen Einfluss auf Wirtschaft, Politik, Medien und viele Formen des Zusammenlebens haben. Sie sollten nicht aus eingeschränkten Perspektiven (Terror! Kindesmissbrauch! Bombenbauanleitungen!) betrachtet werden. Das erinnert an Vor-Buchdruck-Zeiten oder an Kontrollinstitutionen des Biedermeier. Und sie sollten schon gar nicht aus solchen Perspektiven reguliert werden. 

Natürlich haben wir Probleme mit Monopolisierung und Manipulation im Internet. Mit diesen sollte man sich nüchtern beschäftigen. 

Google ist verurteilt. Und jetzt? 

Google ist verurteilter Monopolist und die Rufe nach Entflechtung werden schnell lauter. Auch Chrome fragt jetzt nach der bevorzugten Suchmaschine – möchtest du wirklich Google verwenden? 

Preinstallation und Defaultsettings auf Smartphones sollen nicht mehr verkauft werden dürfen. Nach dem letzten iOS Update fragte sogar das iPhone, welchen Browser man denn als Standardbrowser verwenden wolle – das war sehr verwirrend. 

Mitbewerber im Plattform-Geschäft fordern Spin Offs statt Zukäufen, Chrome und Android sollten von Google und von einander getrennt werden. Das lässt Erinnerungen an ein Internet wie früher aufkommen, als unterschiedliche Services verschiedene Unternehmen so recht und schlecht mit- und gegeneinander arbeiteten. Als man sein Email-Postfach nur zwei Mal die Woche öffnete und das einzige Lock-In-Argument die Bookmark-Liste im Browser war, war das auch noch ein wenig egal. Mit steigenden Interoperabilitäts- und Convenience-Anforderungen wurde aber bessere Zusammenarbeit immer wichtiger, das verstärkte den Hunger nach gemeinsamen Daten – und weil man die nach wie vor noch nicht gern teilt, führte das eher zu Mergers, Fusionen und Zukäufen als zu Datenaustauschmechanismen. 

Man darf Zweifel haben, ob das jetzt anders sein wird, falls es überhaupt zu einer Entflechtung kommen sollte. Denkbar wäre, dass sich die Entwicklung eben schlicht wiederholt. 

Zwei Faktoren sprechen möglicherweise dagegen: Ein überraschender Startvorteil für neue digitale Mitbewerber könnte im Konzept der European Dataspaces entstehen. Geteilte Datenräume und Regeln für das Datenteilen entstehen und sind für Newcomer eine Chance, für die großen ein Ärgernis. Allerdings müssten erst die Großen entflochten und zur Nutzung von Dataspaces angehalten werden. Und die Dataspace-Idee müsste besser verkauft werden, um nicht als Wiedergänger einer Sharing Economy für Nerds missverstanden zu werden. Darin könnte man direkt einen Plan vermuten.

Eine zweites Argument gegen die Wiederholung des Gleichen: Vielleicht verliert Google die Lust daran, die Entwicklung zu wiederholen (und macht etwas anderes, bei dem sich trotzdem ähnliche Vormachtsstellungen neu entwickeln können). Nach dem Urteil gegen Microsoft in den Browser Wars der späten 90er verlor Microsoft ja auch völlig den Faden in der Browserentwicklung und schaufelte das Grab des Internet Explorers mit jeder neuen Version wieder ein Stück tiefer. Wer den Internet Explorer dieser Zeit kannte, kann auch heute noch den Edge-Browser nicht ernst nehmen. Microsoft ist stattdessen in andere Richtungen gewachsen. 

Sehenswert ist im übrigen diese Grafik zur Browser-Archäologie (Cyberdog ❤️, Konqueror ❤️).

Und was sagt Google dazu? Die Konkurrenz erkläre sinngemäß, dass Google-Services die besten seien, aber dass sie den Menschen nicht so leicht zugänglich sein sollten. 

Das wird noch ein wenig mehr an Reaktion folgen müssen. Denn auch in Europa richten sich bereits Urteile, konkret des EuGh, gegen Google.  

Draghi-Report: AI Act bremst

Entflechten, regulieren, zerschlagen – sind das die europäischen Digital-Kernkompetenzen? Dieser Schmäh ist alt, kommt jetzt als Vorwurf aber auch von Mario Draghi und seinem neuen Report zur Wettbewerbsfähigkeit Europas. Draghi kritisiert fehlendes Wachstum, mangelnde Investitionen in Forschung und Innovation und empfiehlt Dekarbonisierung als Potenzial. 

Ausdrücklich kritisiert Draghi den AI Act der EU. Der sei eine von vielen inkonsistenten und restriktiven Regulierungen und werde überdies in der Umsetzung nationale Regierungen dazu verleiten, Goldplating zu betreiben und die Rechtslage für Unternehmen weiter zu verkomplizieren.

Die EU-Kommission dagegen feiert den AI Act und ruft zur Gründung von „KI Fabriken“ auf.   Man weiß nicht ganz, was außer merkwürdigem Technobürokratenslang das sein soll. 

Deutschland wacht

Deutschland verschärft indessen weiter und weiter trotz aller Kritik seine Überwachungspläne. 

About

Ich bin Journalist, Wissenschafts- und Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Informatiker und Datenanalyst. Aktuell analysiere und begleite ich die Digital Subscriptions der Kronen Zeitung.

Davor war ich zehn Jahre Chronikreporter, zehn Jahre Projektleiter und Digitalexperte in Banken, Telekomunternehmen und Verlagen und zehn Jahre selbstständiger Medienproduzent.