Datenpolitik #4: Diagnose Plattformsucht

Wann ist man ein schlechter Verlierer und wann doch eher derjenige, der auch relevante Problemfälle aufmerksam macht und die Party nicht zu Selbstzwecken crasht, sondern weil sie aus dem Ruder läuft?

Die Frage steht bei vielen aktuellen datenpolitischen Themen im Raum. Große Plattformen sind Oligopole, verzerren den Wettbewerb, vermitteln ihren UserInnen auf vielen Ebenen falsche Bilder der Welt – aber was davon ist sinnvoll und aufgeklärt kritisierbar? Was davon würden europäische Plattformen besser oder anders machen? TikTok und große Pornoseiten müssen sich jetzt strengeren Regeln unterziehen, weil von ihnen Suchtgefahr ausgeht.

Das ist eine der aktuellen Auswirkungen der Auslegung aktueller EU-Digitalgesetzgebung.

Natürlich machen Pornos und TikTok nicht nur süchtig. Beides ist sozial, moralisch, politisch und auf anderen Ebenen unerwünscht. Und die Vorteile – Geld, Daten, Steuereinnahmen, Manipulationsmacht – fließen großteils nicht nach Europa.

In beiden Fällen geht es also auch darum, der Betreiber habhaft werden und Kontrolle ausüben zu können. Porno-Plattformen und ihre Hintermänner halten sich da bedeckt, TikTok ist offensiver. Das Management startet eine Charmeoffensive mit Medienarbeit, TikTok-Vertreter haben in den letzten beiden Jahren über 50 dokumentierte Lobbying-Termine bei EU-Abgeordneten absolviert, und in chinesischen Medien wird offen – allerdings eher in bezug auf die USA als auf Europa – von einem Wirtschaftskrieg gegen China geredet.

Ist das überzogen? Ist es nachvollziehbar, dass Europa einen Teil der Digitalhohheit zurückgewinnen möchte?

Währenddessen in other news: Diese Woche wurden die INMA Global Media Awards vergeben. Unter 40 ausgezeichneten Projekten waren 4 TikTok-Projekte, also zehn Prozent – und da sind nir die gezählt, die TikTok im Projektnamen tragen. Das nenne ich Hassliebe.

Wechseln wir mal die Seiten. China lockere seine Datenpolitik, war zuletzt zu lesen. Unternehmen, die in China Daten erheben, dürfen diese jetzt auch außerhalb Chinas verarbeiten. Bislang war das nicht möglich; das bedeutete auch: Unternehmen wurde es praktisch unmöglich gemacht, ihre Standorte aus China wieder ins Ausland zu verlagern. Ist das Schikane und überbordende Kontrolle? Oder ein Mittel, der eigenen Rechtsprechung bei der Durchsetzung zu helfen?

Chatkontrolle und Verschlüsselungsangst

Auf  anderen Baustellen kämpft Europa wieder um Digitalkontrolle als hätten wir 2014. In diesem Jahr hatte der österreichische Verfassungsgerichthof die heimischen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung aufgehoben. Man müsse Freiheit gegen Sicherheit aufwiegen, hieß es, und wer nichts zu verbergen habe, habe auch nichts zu befürchten. Zehn Jahre sind vergangen, die Diskussionen erleben ihr Comeback. Nach wie vor ist effiziente Verschlüsselung das Feindbild vieler PolitikerInnen, nach wie vor regiert die Hoffnung, sowohl Ent- als auch Verschlüsselungstechnologien etablieren zu können, die für Behörden sicher, für Kriminelle aber unerreichbar sind. Bislang hat sich so etwas stets als Irrweng erwiesen.

AktivistInnen und WissenschaftlerInnen schreiben wieder offene Briefe. Polizeibehörden dagegen wettern gegen Verschlüssselung.

Shoppingkrisen: Wohin fährt der Einkaufswagen?

TikTok bleibt nicht die einzige Konfliktzone rund um chinesische Digitalkontrolle. Die Shopping-App Temu ist für den internationalen Markt zugeschnittener Ableger der chinesischen Shopping-App Pinduoduo (so wie TikTok Variante des chinesischen Originals Douyin ist). Temu belegt seit Monaten Spitzenplätze in App Stores, ist Quelle für oft fragwürdige Billigware und sehr präsenter Anzeigenkunde bei vielen Onlinemedien. Letzteres trägt im übrigen nachweislich zur Verschlechterung des Werbeumfelds für Publisher, Leser und andere Werbekunden bei.

Temu ist erst seit einem Jahr auf dem europäischen Markt, hat sich in letzten Monat aber ebenfalls die Aufmerksamkeit der Regulatoren erarbeitet: Auch hier werden Regeln von Digital Services und Digital Markets Act greifen.

Welche Alternativen wird Europa bieten?

About

Ich bin Journalist, Wissenschafts- und Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Informatiker und Datenanalyst. Aktuell analysiere und begleite ich die Digital Subscriptions der Kronen Zeitung.

Davor war ich zehn Jahre Chronikreporter, zehn Jahre Projektleiter und Digitalexperte in Banken, Telekomunternehmen und Verlagen und zehn Jahre selbstständiger Medienproduzent.